10.12.12

Das Messer am Fenster von Tine Sprandel


Das Fenster blieb wie immer verschlossen. Doch heute lag ein Messer davor. Messerscharf, messerspitz. Das Messer lag da und sagte nichts. Messer sagen nichts. Aber diejenigen, die es vor ein Fenster legen sprechen Bände.
„Wenn du das Fenster heute öffnest, bring ich dich um.“
Wieso glaubte Piet, dass ich ausgerechnet heute das Fenster öffnen würde? An keinem Tag, in keiner Woche, schon seit fünf Monaten habe ich es nicht geöffnet.
Ich stehe morgens auf, trinke den Tee (der grässlich schmeckt), den Piet mir kocht. Dann mache ich das Bett, verschließe das Brillenetui, das er immer liegen lässt, bevor er das Haus verlässt und mich sorgsam in mein Gefängnis einsperrt.
Heute hat er zusätzlich ein Messer neben das Fenster gelegt. Will er, dass ich mich umbringe? Oder soll ich hinter der Tür warten und ihn umbringen, noch bevor er die Tasche abgestellt hat?
Nein er legte das Messer vor das Fenster.
Ist er nach fünf Monaten das erste Mal nachlässig geworden?
Ich suchte im Schrank einen passenden Nagellack. Nicht korallenrot, sondern blutrot. Zuerst lackierte ich die Zehennägel. Schon immer lackierte ich die Nägel, wenn ich nachdenken wollte. Bevor ich vor fünf Monaten zu Piet in dieses Gefängnis zog. Dumm und verliebt wie ich war.
Ich legte das kleine Schwarze und den Schmuck, den mir Piet zum Einzug schenkte, zurecht. Ich wollte mit seinem Schmuck sterben mit dem Nagellack aus meinem alten Leben an den Zehennägeln.
Alle Kraft und Macht kommt von innen. Die Tat ist die Blüte des Gedanken.
Aus dem Messer am Fenster zu schließen, dass ich sterben würde, war eine besonders absurde Blüte des Gedanken. Ihn umzubringen, ebenso.
Obwohl ich Grund dazu gehabt hätte. Ich ließ die Schikanen fünf Monate lang zu. Wieso hätte ich gerade heute einen Grund haben sollen? Es war, wie er sagte: Ich war selber Schuld an meinem Gefängnis.

Aber wieso legte er ein Messer an das Fenster?

Wollte er, dass ich begreife, wie ungerecht, wie brutal, wie hinterhältig er zu mir war? Wollte er jetzt vor Weihnachten ein Geschenk machen? Nikolaus bringt den Guten Geschenke, den Bösen zeigt Krampus den Stock. Den Bösen zeigt Piet das Messer.
Ich hatte das Messer noch nicht in die Hand genommen. Wer die Macht hat zu manipulieren, der muss sich auch der Verantwortung bewusst sein. Ich war nicht Schuld an meinem Gefängnis. Ich war nur schwächer als er.
Ich nahm das Messer in die Hand. Ich ritzte mir in die Handfläche und beobachtete das Blut.
Ich ließ es hervor quellen. Es quoll hervor. Dann schrieb ich mit der Handfläche auf den blankpolierten Marmor der Arbeitsfläche in der Küche: WEG.
Ich wollte lieber schreiben: „Ich bin dann mal weg“. Ein wunderbarer Satz, doch dafür reichte das Blut nicht. Ich hatte nicht den Mut, mehr zu ritzen. Deswegen musste ein Wort reichen. So leicht. Es war ganz leicht. Ich richtete nur wenig Gepäck her. Einen kleinen Koffer. Ich öffnete das Fenster, ließ es weit offen. Ließ das Kleid und den Schmuck auf dem weißen Marmor zurück. Das Messer nahm ich mit.

WEG

Zu gehen, war nur ein erster Schritt. Dass begriff ich sehr schnell. Es war der 6. Dezember, es war kalt und regnerisch. Keinesfalls weihnachtlich. Ich mietete mich in einer kleinen Pension in der Innenstadt ein. Ich betrat das Zimmer im dritten Stock. Ein sauber gemachtes Bett, eine einfache Kommode, ein kleiner Tisch und ein Stuhl. Das Bad war so sauber wie unser Bad immer hätte sein sollen, und doch brachte ich es nicht fertig, es so sauber zu putzen. Piet fand immer einen Grund mich zu bestrafen.
Ich wollte nicht an einem Ort wohnen, der mich so an mein Gefängnis erinnerte. Also verließ ich die Pension wieder, checkte aus, ohne zu zahlen. Ich hatte mich mit Namen und Anschrift angemeldet – Piet hätte mich hier eh leicht gefunden.
Ich kaufte ein Ticket für den Nachtzug nach Lissabon. Lissabon klang wärmer als Düsseldorf und der Zug versprach auch wärmer zu sein als eine Nacht auf der Straße.
Ich musste nur den Tag rum bringen. Der Zug sollte um 21 Uhr abfahren. Piet kam um fünf aus dem Büro. Er hatte also vier Stunden Zeit mich am Bahnhof zu finden. Keine gute Idee.
Ich tauschte das Ticket und nahm den nächsten Zug nach Straßburg. Auf Straßburg würde er nicht kommen. Nichts verband uns mit dieser kleinen elsässischen Stadt. Straßburg klang nach Straße und nach Burg. Die Straße wird meine Burg. 
Die nächsten vier Monate verbrachte ich auf der Straße und im Zug. Nach vier Monaten war ich pleite.
Ich konnte an keinem Ort länger als eine Nacht bleiben. Ich konnte keine Wohnung betreten. Jede Wohnung erinnerte mich an mein Gefängnis.
Da las ich in einer Zeitung im Zug ein Inserat: „Fahrzeugüberführungen. Fahrer gesucht, der Wohnmobile an ihren Ausgangsort zurückbringt“.
Mein Job! Das war mein Job!
Ich fuhr direkt zur angegebenen Adresse in meiner Heimatstadt. Ich betrat das kleine Büro am Rande der Altstadt. Hinter dem Empfang war es leer. Alles wirkte ein wenig heruntergekommen. Sehr provisorisch. Als ob hier kein Parteienverkehr erwartet wurde.
Auf einem Sessel im Wartebereich saß Piet.
„Wusste doch, dass ich dich mit so einer Anzeige locken kann.“ Er grinste.
Da nahm ich sein Messer aus der Jackentasche öffnete es, und stach zu. Dreimal. Messerscharf, messerspitz, messgenau ins Herz.

©tine sprandel im Dezember 2012

Mehr von Tine Sprandel auf ihrer Homepage: www.asprandel.de


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