Maxvorstadt
Eine besonders eigene Einbruchserie plagt in diesem
Dezember die Bewohner der Maxvorstadt. Vorzugsweise in den frühen Abendstunden
öffnen Einbrecher Eingangstüren ohne Spuren zu hinterlassen. Sie entwenden
systematisch alle Multimedia-Geräte: HiFi-Anlagen, Computer, Fernseher,
Tablets, sogar die Router zur Steuerung solcher Geräte werden abmontiert. Das
Süffisante dabei: Die Täter hinterlassen für jedes entwendete Gerät eine
Minipflanze. Da es sich ausnahmslos um knallrote Weihnachtsterne handelt,
laufen die Ermittlungen bei der Polizei unter dem Stichwort „Die
Weihnachtsstern-Diebe“. Polizeichef Huber: „Wir gehen von mindestens zwei
Tätern aus. Sie hinterlassen keine Spuren, sie arbeiten schnell und sorgfältig.
Bargeld oder Schmuck interessiert sie nicht. An keinem Tatort stellten wir
außer dem Diebstahl Schäden fest. Von den Tätern fehlt jede Spur.“
„Das muss man sich mal vorstellen, da spazieren zwei bis
drei Männer -“
Arthur stand in der Wäscherei am Ende der Straße und
verfolgte das Gespräch zweier Kundinnen, die vor ihm an der Reihe waren.
„Mindestens eine Frau ist dabei. Ist doch klar. Sie
hinterlassen Pflanzen als Zeichen“, unterbrach die Kleinere von Beiden; Arthur
kannte sie von den Spaziergängen mit seiner Hündin Fiona.
„Wie auch immer, da spaziert also eine Bande am frühen Abend
in ein Haus, stellt den Karton mit Pflanzen vor der Tür ab und macht sich am
Schloss zu schaffen. Wenn sie die Tür geöffnet haben, heben sie in aller Ruhe
den Karton hoch und treten ein. Keiner merkt etwas. So funktioniert
Nachbarschaft heutzutage“, schimpfte die Andere.
Arthur war ein alleinstehender Mann, Mitte Vierzig, und
lebte schon seit 20 Jahren in der Maxvorstadt. Mit seiner Hündin Fiona liebte
er ausgedehnte Streifzüge weit über das Viertel hinaus. In den letzten Wochen
ging er nur noch zu unregelmäßigen Zeiten und sehr kurz mit seinem Hund Gassi
und er verließ das Büro so oft wie möglich schon um halb fünf. Denn eines
hatten die Einbrüche dieser Serie gemeinsam: Es traf nur Häuser und Wohnungen,
die zwischen fünf Uhr und acht Uhr abends vereinsamt waren. Das stand nicht in
der Zeitung, in der Zeitung stand auch nicht, wie viele Einbrüche bereits
verübt wurden: Bis jetzt waren es fünf, zwei an einem Abend, an den
darauffolgenden Abenden jeweils einer.
„Die Einbrecher müssen ihre Ziele sorgfältig ausspioniert
haben, damit sie wissen wo sie in Ruhe arbeiten können,“ hörte sich Arthur
reden – obwohl er es hasste in Geschäften mit anderen zu plaudern. Wenn er
selber aufmerksamer gewesen wäre bei seinen Spaziergängen durch das Viertel,
wäre ihm vielleicht noch eine Gemeinsamkeit aufgefallen: Es betraf nur Häuser,
in denen ab zwanzig Uhr mindestens ein Fenster blau vom Fernseher erleuchtet
war. Wohnungen mit Glühbirnenlicht oder
gar Kerzenschein wurden verschont. Aber das fiel Arthur nicht auf, vielleicht
auch weil es in der Maxvorstadt viele Fenster gab, die blau schimmerten.
Arthurs Kollegin im Büro, Sybille fiel allerdings etwas auf:
„Es ist eigenartig“, sagte sie, „Wenn die Diebe Technik hassen, warum verwenden
sie dann eine Pflanze als Zeichen, die wie keine andere hoch industriell
erzeugt wird? Ein Weihnachtsstern hat
doch nichts mehr mit Natur zu tun. Er darf nicht wachsen, er wird wie eine Kuckucksuhr
produziert.“
„Ach so.“ Arthur kannte sich mit Pflanzen nicht aus und
verstand nicht, was Sybille meinte. Das war meistens so, deswegen waren die
Beiden auch nur Kollegen und keine Freunde.
„Ein Gutes hat die Sache,“ erklärte die Besitzerin der
Wäscherei am Ende der Straße, „Wir halten hier im Viertel jetzt mehr zusammen.
Haben Sie von der Bürgerwehr gehört, die sich gerade bildet?“
„Oja, mein Mann übernimmt die erste Schicht, heute“,
erwiderte eine der Kundinnen.
Arthur dachte mit Greul an die aufgeregt vereinbarte
Gemeinschaftsaktion. „Man hat mich nicht eingeteilt, aber ich gehe ja sowieso
zweimal am Abend mit dem Hund“, nuschelte er.
Im Grunde wollte er gar nicht so viel verraten. Wer weiß,
vielleicht steckte ja die Wäscherin mit den Tätern unter einer Decke? Sie
kannte alle Gewohnheiten der Menschen im Viertel.
So harrte Arthur Abend für Abend in seiner Wohnung aus.
Nicht jeden Tag, doch in unregelmäßigen Abständen passierten drei weitere
Einbrüche. Die Verkäuferin in der Wäscherei hielt ihn auf dem Laufenden. Nach
zwei Wochen wurde es Arthur dennoch zu viel. Er konnte und wollte nicht mehr
jeden Abend zu Hause sitzen. In der Woche vor Weihnachten lud er seine Kollegin
Sybille zum Essen in ein Restaurant ein. Weit weg, in der Innenstadt. Er wollte
sich einfach nur ablenken. Er nahm Fiona mit, denn Sybille mochte Hunde, das
wusste er.
Entweder aufgrund seiner angespannten Nerven oder aufgrund
der Weihnachtsstimmung, auf jeden Fall kamen sie sich an diesem Abend näher. So
nah, dass er sie auf einen Kaffee in seine Wohnung einlud. Sybille genoss
Arthurs plötzliche Offenheit und willigte ein.
Sie betraten die Wohnung eng umschlungen. Arthur wollte kein
Licht machen, er wollte Sybille gleich küssen. Sie taumelte etwas zurück und
berührte den Lichtschalter, das Licht ging an und sie sah den Weihnachtsstern.
Genau dort, wo neben der Telefonbuchse normalerweise der Router hing, stand ein
kleiner roter Weihnachtsstern.
Hand in Hand schlichen sie ins Wohnzimmer. Zwei ebenso rote
Pflanzen prangten auf dem Sideboard, eine weitere auf Arthurs Schreibtisch.
„Hast – äh hattest du noch mehr Geräte?“
„Einen I-Pod, er liegt im Schlafzimmer.“
Sie schlichen ohne die Finger voneinander zu lösen auch
dorthin. Tatsächlich – ein Miniexemplar stand auf dem Nachtisch. Fiona knurrte.
Arthur starrte auf sein sorgsam gemachtes Bett. Dann sah er zu Sybille und zum
Weihnachtsstern und wieder zurück. Ein Lächeln spielte um ihre Augenwinkel und
steckte ihn an. Plötzlich lachten sie beide laut los und ließen sich auf das
Bett fallen.
„Wer wusste davon, dass wir heute ausgehen?“ flüsterte
Sybille.
„Ich glaube die Verkäuferin in der Wäscherei weiß alles“,
antwortete Arthur. Sie schüttelten sich vor Lachen.
„Der Abend ist es wert“, brachte Arthur noch hervor, dann
küsste er Sybille.
Sie fanden zwar wenige Gesprächsthemen, aber sie lachten
zusammen, das war das Beste, was ihm passieren konnte.
„Du bist die Allerschönste im Advent“, flüsterte er, während
er seine Finger die Haut ihres Rückens fühlten.
„So nennt man den Weihnachtsstern auch“, kicherte sie.
„Ich weiß, ich hab mich informiert“. Arthur hatte den
Verschluss vom Büstenhalter erreicht.
Am 27. Dezember erschien eine Annonce in der
Stadtteilzeitung:
„Sehr verehrte Fernsehgucker und Computerjunkies, eine
Statistik besagt, dass Fernsehkonsum und Computernutzung eng mit der Kinderzahl
korreliert. Und zwar gegenläufig: Zu viel Multimedia hemmt die Fruchtbarkeit. In diesem Sinn: Wir
hoffen Sie hatten eine fruchtbare Vorweihnachtszeit! Wir wollten Sie natürlich
nicht dauerhaft bestehlen, sondern nur
unseren Beitrag zur Steigerung der Geburtenrate leisten. Sie finden Ihre Geräte
...“ Es folgte eine Adresse in einem leerstehenden Haus. Unterzeichnet war die
Annonce mit „Die Weihnachtsstern-Diebe“.
Man fand die Täter nie. Doch verzeichnete die Maxvorstadt im
kommenden Jahr tatsächlich eine leichte Steigerung der Geburtenrate. Die
Verkäuferin in der Wäscherei kannte jedes Baby mit Namen und Geburtsgewicht.
©Tine Sprandel
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